Wirtschaft oder Kultur? – Was ist die Grundlage eines vereinten Europa?

Am heutigen 22. Januar 2013 tagt anlässlich des 50. Jahrestags der Unterzeichnung
des Elysée-Vertrages
die Assemblée nationale und der Deutsche Bundestag in Anwesenheit der beiden Regierungen, des Staatspräsidents Hollande, des Bundespräsidenten Gauck, Vertreter_innen des Bundesrates und des französischen Senats gemeinsam in Berlin. Dabei soll eine gemeinsame Erklärung von Deutschem Bundestag und der Assemblée nationale angenommen werden. Der Deutsche Bundestag hat hierzu bereits in der vergangenen Woche Einvernehmen hergestellt.

Ich möchte dies zum Anlass nehmen, hier meine Überzeugungen zur Grundlage eines vereinten Europa darzulegen.

Es ist wie ein Menetekel, dass die Verschuldung in Europa bisher ausgerechnet Griechenland am Härtesten getroffen hat. Was wäre Europa ohne Griechenland? Die europäische Demokratie wurde vor 2000 Jahren in Griechenland „erfunden“. Und nun droht Europa genau dort der Beginn eines Kollaps.

Hinter der Einführung des EURO als gemeinsamer europäischer Währung stand der intensive Wunsch nach europäischer Einigung. Man meinte damals, über die zentrale Bestrebung einer Wirtschafts- und Währungsunion diese Einigung erreichen zu können. Die Motive, aus denen diese Einigung erreicht werden sollte und noch soll, sind ökonomischer Art. Und selbstverständlich soll hier nichts gegen die Ökonomie als solcher gesagt werden, denn das wäre absurd. Die Ökonomie, und noch viel mehr die Finanzwirtschaft bedarf jedoch  klarer Leitgedanken und Steuerungselemente. Wirtschaft und wirtschaftliches Wachstum können nicht Selbstzweck sein, auch wenn das seit 20 Jahren so mancher glauben wollte. Bei attac heißt es schon lange: „Seit 20 Jahren ist die Wirtschaft wichtiger geworden, als der Mensch“.

Erst seit etwa zwei Jahren hört man aus der Diskussion über die Krise in Europa den Wunsch nach einer politischen Union heraus. So sagte Außenminister Westerwelle im September des gerade abgelaufenen Jahres: „Am Ende des Weges, den wir jetzt einschlagen, muss eines Tages eine politische Union stehen. Sie würde unsere Wirtschafts- und Währungsunion vollenden. Zugleich würde sie eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik im vollen Wortsinn verwirklichen.“ Und die FAZ berichtete am 18.09.2012: „Elf europäische Außenminister haben Vorschläge zur Zukunft der EU vorgelegt: Darin sprechen sie sich dafür aus, mehr Kompetenzen nach Brüssel abzugeben. So soll die EU etwa Durchgriffsrechte auf nationale Haushalte erlangen und der Europäische Auswärtige Dienst überprüft werden.“ Eine politische Union soll demnach zwei wesentliche Aufgaben haben: Zugriffsrechte auf Haushalte und eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.

Vollständig ausgeklammert bleibt bei solchen Bemerkungen alles das, was mit Demokratie, Kultur und Bildung zu tun hat. Setzt man vielleicht stillschweigend voraus, dass sich das Bewusstsein europäischer Identität von selbst einstellt, wenn man erstmal eine gemeinsame Finanz- und Marktwirtschaft und eine gemeinsame Militärstrategie aufgebaut hat?

Europa ist seit 2000 Jahren ein Gebilde, das vorwiegend durch einen gemeinsamen dynamischen Kulturbegriff zusammen gehalten wurde. In dem Interesse an der Verschiedenartigkeit kultureller Impulse bis hin zum „offenen Gespräch der Feinde“ (Friedrich Heer), kurzum: im dialogischen Prinzip als Ergebnis eines Kulturprozesses, in dem griechische Philosophie und Bildung über Jahrhunderte oder gar zwei Jahrtausende mit dem christlichen-abendländischen humanistischen Menschenbild verschmolz, gründete sich europäische Kultur, europäischer Zusammenhang.

Wie steht es um das kulturelle Europa? Werfen wir einen Blick in die Schulen: In wie weit ist das „neue Europa“ zum Beispiel im deutschen Schulwesen angekommen? Kennen deutsche Abiturient_innen seit der Einführung des EURO mehr polnische, rumänische, italienische, dänische, norwegische Schriftsteller? Lernen wir an deutschen Schulen mehr über tschechische, ungarische, spanische oder schwedische Musik? Wissen deutsche Abiturient_innen jetzt etwas über polnische Freiheitsphilosophie oder ungarische Anti-Politik? Werden an deutschen Schulen verstärkt europäische Sprachen gelehrt? Nein, all das passiert nicht. Und deshalb konstatiert der Betrachter im derzeitigen europäischen Einigungsprozess eine ungeheure Einseitigkeit. Ob es den Akteuren bewusst ist, oder nicht: eine Europapolitik, die sich allein auf Wirtschafts- und Finanzpolitik stützt und meint, Kultur und Bildung komme dann von allein, führt all das, für das Europa seit 2000 Jahren steht, ad absurdum.

Die europäische Philosophie beispielsweise hat die Fähigkeit des Denkens in Polaritäten und dessen Fähigkeit eine Synthese auf höherer Ebene zu schaffen hervorgebracht. Insofern ist eben die Kritik an einem einseitig wirtschaftlich oder finanzpolitisch orientierten Denken gerade KEINE Kritik an Wirtschaft und Finanzen, sondern deren notwendige Voraussetzung. Rein wirtschaftlich oder sicherheitspolitisches Denken frönt immer dem Ego. Streben nach Sicherheit ist immer auf sich selbst orientiert. Das kann gar nicht kritisiert werden, denn es ist einfach eine Tatsache, mit der man umgehend muss.

Gemeinsamkeit kann aber nicht auf Konkurrenz bauen, denn sie ist das Gegenteil davon. Gemeinsamkeit ist Interesse am Andersartigen, ist Vertrauen, ist die gegenseitige Gewährleistung der noch sehr unvollkommen politisch und gesellschaftlich garantierten „unantastbaren Würde des Menschen“. Eine Wirtschaft, die sich auf einen solchen Wert ausrichten würde, wäre eben nicht eine Konkurrenzwirtschaft, sondern eine solidarische Wirtschaft. Eine Politik, die sich an europäischen humanistischen Werten ausrichtet, ist eben nicht eine Politik, die vorwiegend nach Sicherheitseinrichtungen wie Frontex rufen muss. Und auch Humanismus selbst kann weiterentwickelt werden und muss nicht dort stehen bleiben, wo die Gebrüder Humboldt in Deutschland, ein Sören Kierkegaard in Dänemark oder ein August von Cieszkowski in Polen sie beschrieben und gelebt haben. Wird in Europa überhaupt noch der Begriff der „Freiheit“ wirklich diskutiert? Sind wir etwa seit dem Fall des so genannten „Eisernen Vorhangs“ alle frei und müssen deshalb den Freiheitsbegriff gar nicht mehr diskutieren? Entwickeln wir eine Politik auf der Basis des Begriffs von Freiheit und Würde des Menschen und deren sozialer Verwirklichung? Wie würde dann das soziale Leben in Europa aussehen?

Träumen wir von einem weltweiten Wirtschaftswachstum von 3% und rechnen diese hoch auf das Jahr 2050: es würde eine Verdreifachung der weltweiten Produktion bedeuten. Ökonomisch und ökologisch nicht zu verantworten.

Es gibt jedoch eine Möglichkeit unerschöpflichen Wachstums: in der Möglichkeit der humanistischen Entwicklung jedes einzelnen Menschen. Durch Bildung. Durch Kultur.

Die so genannten „Praktiker“ der letzten 20 Jahre haben ihre Weltfremdheit genügend dokumentiert. Sie haben Ursache und Wirkung der europäischen Krise verwechselt und tun das auch heute noch. Gerade deshalb muss auch mal ein anderer Gesichtspunkt wie der heute übliche zur Geltung gebracht werden. Nur toter Fisch schwimmt mit dem Strom.

Kultur ist nicht ein Beiwerk von Wirtschaftsprozessen. Es gibt diesen Wirtschaftsprozessen erst deren Sinn. Wenn europäische Politik dies vergisst, hat sie sich selbst vergessen. Das kann man schreiben, weil man ein FREUND Europas ist und nicht ein Gegner der europäischen Einigung.

Arfst Wagner

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3 Kommentare

  1. Johannes Wagner sagt:

    Schöner Essay, der mal ein paar grundlegende Fragen zu Europa aufgreift und diskutiert!

    So ein bisschen scheint er dann aber doch den deutschen Kulturimperialismus auszublenden. Folgende Frage bleibt ausgeklammert: Warum liegt denn der Schwerpunkt der deutschen Europapolitik nach 1945 auf der Wirtschaft und nicht mehr auf der Kultur? Ich denke, das liegt auf der Hand: Weil die Vormachtsstellung der Deutschen in Europa nach 1945 nicht nicht mehr durch ihre kulturelle, sondern nun durch ihre wirtschaftliche Überlegenheit als größte Volkswirtschaft gesichert werden soll!

    Nicht mehr der Sozialdarwinismus, sondern der Wirtschaftsdarwinismus regelt nun das politische Geschehen: Der Bundestag soll laut Merkel nun doch bitte „marktkonform“ entscheiden, wo der Reichstag vor 70-80 Jahren „national“ entschied. Doch wessen Markt ist denn bei Merkel gemeint? Nach wie vor der deutsche – und das selbstverständlich auf Kosten der anderen. Überall, und natürlich auch im Deutschen Bundestag, haben wir es nach wie vor mit einer unsäglichen Deutschtümelei zu tun, die

    In Arfst‘ Richtung möchte ich damit antworten: Seit der Einführung des EURO kennen mehr polnische, rumänische, italienische, dänische, norwegische Abiturientinnen DEUTSCHE Schriftsteller. Da kannst Du Dir sicher sein. Und auch die Preise steigen in Deutschland meiner Wahrnehmung der letzten Jahre nach sehr viel langsamer als im europäischen Ausland. Das bedeutet: Kulturell UND wirtschaftlich boomt das Deutsche im europäischen Ausland – und in den armen Bevölkerungen beginnt man meinen Erfahrungen des letzten Jahres nach allmählich wieder, uns zu hassen.

    Hiermit sei eine Frage angerissen, die ich beim Nachdenken über Europa und die politische Union für unglaublich wichtig halte: Wie können Deutsche in Europa für ein Europa kämpfen, das nicht nur alle anderen Länder germanisiert, sondern auch die Impulse anderer Kulturen aufgreift? Das ist die Frage, die sich vor allem die GRÜNEN stellen müssen, wenn sie sich wieder einmal in Europafragen der CDU näher sehen als der Linkspartei.

    Ich befinde mich mit dieser Frage in einem echten Dilemma, denn mir geht es immer wieder auch so wie besagten GRÜNEN. Für konstruktive Beiträge wäre ich daher sehr dankbar!

    • Arfst Wagner sagt:

      Ja, das glaube ich auch: Seit Einführung des Euro kennen sicher mehr Rumänen, Italiener, Ukrainer und andere DEUTSCHE Schriftsteller. Meine Frage war aber auch eher: Kennen auch mehr DEUTSCHE die Schriftsteller anderer europäischer Länder seit Einführung des Euro? Da habe ich meine Zweifel. So viel zum deutschen Kulturimperialismus.

  2. Johannes Wagner sagt:

    Auch Bundespräsident Gauck hat sich nun öffentlichkeitswirksam mehr oder weniger zu dem Themenkreis Deiner titelgebenden Frage geäußert: http://www.welt.de/print/die_welt/politik/article113848650/Europa-soll-Englisch-sprechen.html

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